Dr. Kristina Bake (2020)
Stillleben. Vom Leben der Dinge in den Zeichnungen Torsten Enzio Richters
Dinge sehen Dich an – und erzählen Geschichten. Sie erzählen ihre Geschichte, beginnend mit ihrer Herstellung, die mal idyllisch in einer ländlichen Tischlerei, mal industriell in einer lauten Fabrik stattgefunden haben kann. Bereits zu diesem Zeitpunkt tragen sie die Geschichten ihrer Materialien in sich: Holz, Aluminium, Stahl, Eisen, Kunststoff und Email verweisen auf einen Prozess, der lange vor dem konkreten Gegenstand begann und ihn in größeren, globalen Zusammenhängen verortet.
Aber nicht nur das: Die Gegenstände, welche Torsten Enzio Richter in seinen Zeichnungen festhält, erzählen mitunter davon, wer sie benutzte, wofür sie verwendet oder wie sie beschädigt, gepflegt und repariert wurden. Sie zeugen davon, wie sie uns, den Benutzern, die Arbeit ermöglichten, welche zu tun war, wie sie uns ärgerten, wenn sie nicht gut oder nicht mehr funktionierten oder zeugen von unserer Freude, wenn sie beim Arbeiten gut in der Hand lagen.
Eine elektrische Kochplatte mit zwei Kochfeldern: In die Rillen eingebrannt sind die Spuren der darauf zubereiteten Speisen. Vermutlich war die Umgebung, in der sie verwendet wurde, gewissermaßen „provisorisch“: vielleicht ein Campingplatz, eine Gartenlaube oder eine spartanischen Studentenwohnung unter dem Dach. Überall dort habe ich solche Kochplatten gesehen. Es waren wohl eher einfache Gerichte, die mit dieser Kochplatte zubereitet wurden: Nudeln, bei denen regelmäßig das Wasser überkochte, weil die Temperatur schlechter als bei einem Gaskocher zu regulieren ist. Aber es waren im besten Fall glückliche Essen, zu denen sie beitrug. Nach vielen Jahren der Nutzung bekommt man die klebrigen Reste nicht mehr ab, auch nicht, wenn man exzessiv Lösungs- oder Spülmittel verwendet. Die Flecken bleiben mit dem Objekt verbunden wie die Erinnerungen mit uns. Die Dinge haben ein Leben (gehabt) und sie erzählen davon.
Der Grafiker Torsten Enzio Richter bringt Gegenstände des Alltags zum Sprechen, indem er sich Zeit für sie nimmt, sehr viel Zeit. Das zeugt nicht nur von seiner Wertschätzung für diese Artefakte unseres Lebens, sondern auch von seiner Fähigkeit, ihre Authentizität zu erfassen. Er weiß nicht nur um den konkreten Nutzen eines jeden Dings, sondern auch um seine spezifische Schönheit: Wie jedes Ding – selbst, wenn es in Massenproduktion hergestellt wurde und seinen „Geschwistern“ wie ein Ei dem anderen gleicht – im Laufe seines Lebens die hier makroskopisch genau wiedergegebene Gestalt annimmt. Die individuellen Gebrauchsspuren machen jedes Stück einzigartig und durch die Zeichnungen von Torsten Enzio Richter wird es zum Individuum. Im wochenlangen Prozess des Zeichnens verwandeln sich die Dinge von gewöhnlichen realen Gegenständen zu Subjekten mit einer Ausstrahlung, die über sie hinausweist.
Wir bewundern nicht die Kochplatte, den Zaun, den Laubbesen und schon gar nicht die Föhnhaube. Wir bewundern Torsten Enzio Richters Zeichnenkunst, seine Vorstellungen von diesen Objekten. Wir betrachten fasziniert diese Arbeiten und können nicht glauben, dass sie tatsächlich nur mit dem Bleistift gezeichnet sind. Wir prüfen, ob es sich nicht doch um Fotos handelt. Warum zeichnen, wenn man fotografieren kann?
Ohne der Fotografie zu nahe treten zu wollen, die – vereinfacht gesagt – ein Eins-zu-Eins-Abbild liefern kann, eröffnet die Handzeichnung dem Künstler die Möglichkeit, eben doch Kleinigkeiten zu verändern. Obwohl er den Umriss korrekt auf das Blatt durch Umzeichnen des Gegenstands überträgt, bildet er nicht jedes Detail exakt ab bzw. fügt manches hinzu zu Gunsten des Gesamteindrucks. Durch stundenlanges Betrachten der Objekte erfasst der Grafiker ihre markanten Strukturen und spezifischen Merkmale, ihre ganz besonderen Eigenheiten und setzt diese anschließend frei um, um das Porträt eines ausgegrabenen Bajonetts oder eines Spatens zu erzeugen, wobei er eigene ästhetische Akzente setzt.
Der Vergleich zur Fotografie liegt auf der Hand, denn diese bildet meist zuverlässig all diese Zufälligkeiten der Oberfläche ab. Auch lassen sich durch besondere Beleuchtung – wie Streiflicht – oder Nachbearbeitung solche Erscheinungen der Oberfläche noch verstärken.
Die Fotografie bildet jedoch in der Regel Oberflächen für unsere Wahrnehmung kontinuierlich ab (es sei denn, durch besonders grobes Korn sei gerade die gegenteilige Wirkung erwünscht). Dies hätte sich in der Bleistiftzeichnung durch Verwischen ebenfalls erreichen lassen, aber erstaunlicherweise sind in den Arbeiten von Torsten Enzio Richter immer noch feinste Strichlagen zu erkennen, wobei der Künstler nicht grundsätzlich auf das Verwischen verzichtet. In der Nahsicht behaupten die Arbeiten ihren Charakter als Zeichnungen und entfalten so ihren unschätzbaren Wert, dabei gleichermaßen den der dargestellten Gegenstände betonend.
Der ästhetische Eindruck des Blattes ist für Torsten Enzio Richter der entscheidende Punkt: Alle Objekte werden ohne jeglichen Hintergrund als Silhouetten in Originalgröße auf weißem Grund präsentiert. So werden sie aus ihrem Zusammenhang gerissen und damit sachlich-nüchtern dokumentiert wie für eine Enzyklopädie menschlicher Arbeit. Dadurch erhalten sie eine zeitlose Präsenz und wirken zeichenhaft. Der Aufriss aber wird vom Künstler in der Perspektive korrigiert, damit die ästhetische Wirkung des Blattes nicht durch den zufälligen Umriss des Objekts beeinträchtigt wird. Das auch bei Kindern beliebte Umzeichnen eines Gegenstands, zum Beispiel der eigenen Hand, vermittelt die direkte Draufsicht, aber Torsten Enzio Richter baut die Perspektive ebenso wie das Licht ein, was den Schatten impliziert, der zur räumlichen Wirkung beiträgt. So entsteht eine Richtung, aus der unser Blick auf den dargestellten Gegenstand zu fallen scheint.
Im Gegensatz zur Pop Art, die Massenware in ihrer Sterilität als Signatur der Moderne feierte, kultiviert Torsten Enzio Richter die Einzigartigkeit der an sich banalen und zum Teil unpersönlichen Gegenstände. Geradezu irritierend ist die Akribie, mit der hier die Oberflächen der Dinge, die Spuren ihres Lebens bzw. dessen ihrer Benutzer zur Schau gestellt werden: Flecken, Kratzer, Schleifspuren, Dellen, Beulen, Fehlstellen, Rostpartien – diese Dinge pochen geradezu auf ihre Individualität.
Torsten Enzio Richter, der väterlicherseits einen Hufschmied zum Großvater hatte und die Schönheit eines handgeschmiedeten Nagels zu schätzen weiß, beschränkt sich aber nicht auf traditionelle Gegenstände einer womöglich idealisierten Vergangenheit, sondern schenkt die gleiche Aufmerksamkeit Erzeugnissen der modernen Welt, die irgendwo anonym produziert wurden; im besten Fall verweist ein Aufkleber noch auf das Land ihrer Herstellung. Damit regt er uns zur Reflexion über die Herkunft von Rohstoffen und die Lebensdauer von Gebrauchsgütern an. Es irritiert und scheint nicht zu passen, wenn in altmeisterlicher Manier Produkte der Konsumgesellschaft, die in absehbarer Zeit irreparabel verschlissen sind, für die Nachwelt festgehalten werden.
Unabhängig davon, welcher Gegenstand dargestellt wird, ist es verblüffend, wie genau und umfassend sämtliche Zufälligkeiten und Regellosigkeiten, wie alle Gebrauchs- und Altersspuren der Dingoberflächen abgebildet werden. Wie dies mit den Mitteln der Bleistiftzeichnung überhaupt zu erreichen ist, bleibt des Künstlers Geheimnis. Jedenfalls ist solche Darstellungsweise meisterhaft, geradezu vollkommen.
In der Regel arbeitet Torsten Enzio Richter immer nur an einer Zeichnung. Bei den zum Teil sehr großen Arbeiten, an denen er über Wochen arbeitet, kann es aber auch vorkommen, dass er parallel an einem kleinen Blatt arbeitet, um sich einen gewissen Abstand zum nur langsam sich entwickelnden Großformat zu ermöglichen.
Nach Festlegen des Umrisses zeichnet der Künstler das Blatt, von dem er bei Arbeitsbeginn bereits eine relativ genaue Vorstellung hat, wie es aussehen wird, von links nach rechts (wie beim Schreiben) durch. Er füllt die leere Fläche, indem er in detaillierter Feinarbeit Grautöne und Strukturen wiedergibt.
Aus der Vielzahl seiner Bleistifte aller Härtegrade von 9H bis 8B legt er sich mit der Entscheidung für Weichheit und Dunkelheit des Materials am Beginn seiner Arbeit fest und zeichnet gegebenenfalls eine zweite oder dritte Schicht, um das gewünschte Resultat zu erzielen.
Große Blätter hängen während der Arbeit manchmal an der Wand, die arbeitende Hand darf die Zeichnung nicht verwischen. Die Arbeit beginnt – wie bereits erwähnt – mit der eingehenden Betrachtung des Objekts, die zu einer Art Verinnerlichung der Oberflächen führt. Torsten Enzio Richter kennt sein Modell dann so gut, dass es nicht mehr zwingend ist, es permanent vor Augen zu haben.
Damit folgt der Künstler, dem – wie mir scheint – eine besondere Form der Sensibilität, nämlich die der visuellen Wahrnehmung eigen ist, einer Idee Leonardo da Vincis, der sich auf vielfältige Weise mit Fragen der Optik, dem Sehsinn und der Wahrnehmung auseinandergesetzt hat. Leonardo postulierte das gründliche Beobachten und Betrachten als Voraussetzung für die Erkenntnisgewinnung und thematisierte den unmittelbaren Zusammenhang von Sehen und Zeichnen bzw. Malen. Die Schönheit erschließt sich uns erst durch das Sehen, deshalb galt Leonardo das Auge als vornehmstes Sinnesorgan. Die durch genaue Beobachtung gewonnene Erkenntnis der dreidimensionalen Welt kann ein Maler oder Grafiker dank seiner Fähigkeiten dann in die Zweidimensionalität übertragen, indem er Licht und Schatten, Räumlichkeit und Perspektiven nicht nur wiedergibt, sondern in höchster Perfektion erfindet. Der Künstler ist also zuerst einmal ein aufmerksamer Betrachter.
Im Ergebnis dieser Auseinandersetzung entwickelt Torsten Enzio Richter dann eine spezifische Struktur, mit der sich jede Oberfläche ideal darstellen lässt. Um es mit seinen Worten zu sagen: Er findet für jeden Gegenstand ein eigenes „Rezept“ für die Darstellung von Holz, Rost, Schmutz, Gummi oder eben auch für ein klassisches Softbröd. Alles ist ihm möglich. So erschafft der Künstler die Illusion des Materials, erfindet – Quadratzentimeter für Quadratzentimeter – ästhetische Oberflächen, die uns glauben lassen, es würde sich um exakte Abbilder handeln. Kunstvolle Trompe-l’œils, Augentäuschungen, Illusionen – eine jahrhundertealte Kunst, die mit den Erwartungen des Betrachters spielt sowie Meisterschaft und Witz des Künstlers bezeugt.
Torsten Enzio Richter ist ein ernsthafter, stiller Könner, der ruhig und konzentriert arbeitet. Über die Stunden und Wochen entwickelt sich so eine kontemplative Stimmung, eine Art Versenkung, mit der sich der Künstler seiner Arbeit widmet. Er nennt es schlicht „ein gewisses Maß an Verbohrtheit“, das es braucht, um die Arbeit durchzuziehen. Noch nie hat er ein Blatt unvollendet gelassen.
Warum jedoch wirken diese gezeichneten Dinge bei aller Vertrautheit dennoch ganz fremd?
Zum einen durch ihren Hyperrealismus, der jede Partie des Gegenstandes gleich scharf und deutlich darstellt, während wir doch Dinge wahrnehmen, indem wir den Blick über sie wandern lassen und wohl nur selten den Eindruck vollständiger Schärfe haben. Die Zeichnungen sind also wie die Dinge selbst.
Zum anderen durch die Beschränkung auf Schwarz, Grau und Weiß. Gerade die akribisch genaue Abbildung verlangt eigentlich nach Buntfarben als weiterem Bestandteil unserer optischen Wahrnehmung. Eine Wirkung, die auch schon bei der frühen Fotografie, besonders der Daguerreotypie, auffiel: bei aller „gestochenen Schärfe“ bleiben diese Bilder ohne Farbe eine stärkere Abstraktion von der Wirklichkeit, als die Bilder unserer Wahrnehmung. Es ist dieser Unterschied zur Sehwirklichkeit, der uns gerade das Einzigartige, Eigene, so gar nicht Zufällige dieser Gegenstände erkennen lässt.
Die Dinge scheinen von selbst zu Torsten Enzio Richter zu finden. Fundstücke und Geschenke von Freunden, die im Atelier geduldig auf ihre Darstellung warten. Die mittelgroße Tonne mit der Aufschrift „Fass-Tabak“, die zerfledderte Verpackung von Feuerwerkskörpern und ein Besen mit abgebrochenem Stiel werden in absehbarer Zeit als Zeichnung umgesetzt werden. Man kann gespannt sein, wie sich sein Werk entwickeln wird. Selbst die exakteste Darstellung von dreidimensionalen Objekten auf dem zweidimensionalen Papier impliziert eine Abstraktion, über die der Realismus hinwegtäuscht. Die minutiöse Zeichnung einer deformierten Vorsignaltafel für Zugführer ist gleichermaßen gewohnt realistisch wie ungewohnt abstrakt, da der Gegenstand nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Neben den Zeichnungen entstehen Lithografien, die den unschätzbaren Vorteil der Vervielfältigung haben. Aber es geht dem Grafiker nicht nur um diesen pragmatischen Aspekt. Torsten Enzio Richter hat schlichtweg Freude an den unterschiedlichen Drucktechniken. Das begann bereits im Studium, als er zahlreiche schnelle Kaltnadelradierungen anfertigte und jetzt hat er Freude an der Arbeit mit dem Stein und den technischen Möglichkeiten, die ihm das Material bietet. So entstehen kleine Serien von Werkzeugen und Objekten aus dem gemeinsamen Leben mit seiner Tochter, die bisweilen Leichtigkeit und Heiterkeit ausstrahlen. Allein durch die Auswahl der „Modelle“ Softbröd und Kindergummistiefel bekommt die Lebendigkeit der Dinge eine neue Richtung.
Für Kinder, Angehörige indigener Kulturen oder auch Menschen mit psychischen Erkrankungen sind belebte Dinge ganz selbstverständlich Teil ihres Denkens. Für uns moderne Menschen sind sie – spätestens seit E.T.A. Hoffmanns 1816 publizierter Erzählung vom „Nussknacker und Mausekönig“ – oft eher unheimlich und gehören ausschließlich in den Bereich der Phantasie, des Märchens. Torsten Enzio Richter entwickelt eine ganz eigene Perspektive auf die Lebendigkeit der Dinge. Seine Grafiken überlassen es ganz uns, dem Betrachter, wie weit wir uns darauf einlassen möchten. Fest steht nur: Der Künstler dokumentiert keineswegs ausschließlich, sondern erfindet für uns seine Geschichten vom Leben der Dinge.
Jeder Gegenstand hat seine eigene Geschichte, manche dauerten Jahrzehnte oder Jahrhunderte: Wer hatte nicht schon einmal in einem barocken Spiegelsaal den Gedanken: Wenn diese Spiegel erzählen könnte, was sie „gesehen“ haben. Oder wenn berühmte Musikinstrumente sagen könnten, wer sie gespielt hat und welche Besitzer sie in ihren Händen hielten… Selbst schlichte Alltagsgegenstände können uns die Geschichte nahebringen.
Die Geschichten aller vom Menschen produzierten und genutzten Objekte sind nicht zu zählen und machen in ihrer Gesamtheit die menschliche Kultur aus. Manche Geschichten werden sich, wo auch immer auf der Welt sie sich ereignen, ähneln. Andere sind nur an ganz spezifischen Orten und zu besonderen Zeiten möglich.
Der Holzzaun trennte vielleicht in einem Dorf den privaten Garten vom offenen Feld ab. Wie oft wurde das Tor am Tag geöffnet? Wer ging hindurch? Wer lehnte sich daran, beobachtete die Umgebung und das Wetter oder redete mit dem Nachbarn? Wer benutzte das Kittmesser und was wurde damit alles gekittet? Was erlebte das Bajonett, das nach der Ausgrabung ein zweites, vermutlich weniger aufregendes Leben in der Sammlung eines Museums begann? Welche Gespräche fanden unter der Föhnhaube statt? Und in welcher Sprache? In welchem Salon hat sie ihren Dienst getan?
Faszinierend, wie ein sich durch nichts Besonderes auszeichnender Gebrauchsgegenstand unsere Vorstellungskraft aktiviert, wie uns immer mehr Szenen einfallen, wenn man der Phantasie Raum gibt.
Die auf den ersten Blick so eindeutigen Dinge entwickeln beim Betrachten und Nachdenken ihr eigenes Leben. Die Frage, warum sie dargestellt werden, stellt sich plötzlich nicht mehr. Einige Gegenstände erscheinen geradezu menschlich: Endschalldämpfer und Kochplatte bekommen beim längeren Betrachten menschliche Züge. Man muss sich – wie Torsten Enzio Richter – nur die Zeit für sie nehmen.
Gut Ding will eben Weile haben.
– Dr. Kristina Bake (2020)